Papa, du kannst jetzt gehen
"Papa, du kannst dann jetzt gehen", sagt sie.
Sie, das ist Alma Luna, jetzt bald 5 und meine Tochter. Krass, wie sie das sagt. So klar, so offen, so ehrlich. Und so wunderschön, dass ich darauf vertrauen kann, dass das auch okay für sie ist, wenn ich jetzt gehe. Sonst würde sie es nicht sagen. Denn sie vertraut mir.
Es ist nach Ostern und ihr heiß ersehnter Tag ist gekommen: Alma Luna Sennert geht heute hochfeierlich das erste Mal in ihrem Leben in den Kindergarten. Warum? Ja, das habe ich mich auch oft gefragt, denn es besteht aktuell keine Notwendigkeit. Sie ist jetzt fast 5 Jahre mit uns gemeinsam zuhause und das hätte auch so bleiben können. Denn wir leben die letzten Jahre und auch noch aktuell in der Gunst, alle zu Hause sein zu können. Wir trennen Leben und Arbeit nicht.
Okay, bis auf Jakob. Der ist seit Oktober - ebenfalls auf eigenen Wunsch - auf einer ganz eigenen Mission, die er "Yeah! Schule!" nennt. Das Freilerner-Kind. Verrückt.
Auch Alma hatte nach Kindergarten gefragt. Sie wollte die Erfahrung gern machen. Unwissentlich, was das im Detail für sie bedeutet - aber das checkt sie ja jetzt aus. Und wir halten das so, wie wir unser Leben schon viele, viele Jahre leben. Es ist alles genau so lange okay, wie es für alle okay ist und wenn es das mal nicht mehr ist, dann setzen wir uns zusammen und schauen, was wir dann daraus und damit machen. Weil wir uns gern ausprobieren.
Weil wir lebendig sind. Weil darum halt.
Es ist das, was heute mit Begrifflichkeiten wie bedürfnisorientiert Aufwachsen oder Attachment Parenting betitelt wird
Nur hören wir nicht bei den Kindern auf. Sondern wir sehen und leben uns alle als Organismus, in dem jeder sich gesehen und geliebt fühlen darf, sich selbst und sein Sein ins Leben entfaltet. Was immer das in dem Moment für ihn oder sie auch bedeutet.
Wir sprechen von bedürfnisorientierten Beziehungen - und die sind in einem lebendigen Leben halt einfach unglaublich vielfältig.
Wir haben damit früh begonnen. Mit Beginn der Schwangerschaft haben wir uns Fragen gestellt. Wie wir das eben echt gern tun. Fragen stellen. Wir haben uns die Fragen gestellt, welche Eltern wir sein wollen und wie unser Leben dann aussehen wird, soll, kann, darf. Damals noch in der romantischen Vorstellung, dass das dann auch so kommt, wie wir uns das so aushecken *kicher *. Um über die Jahre mehr als einmal alles über den Haufen zu werfen, was nicht funktionierte und zu schauen was es statt dem dann braucht. Jetzt - in diesem Moment.
Ich habe so so viele kluge Bücher gelesen, denn ich habe Familie so nie wirklich “erlebt”. Als mittleres Kind einer alleinerziehenden Mutter in angespanntem sozialen Gefüge fehlte mir ein väterliches Vorbild. Ich hatte ein scheinbar Schlechtes, aber das half mir nicht bei der Findung dessen, was ich nun als Familie leben wollte. Nur wie ich es nicht haben will.
Klar, hilft das auch irgendwie. Aber ich glaube, du verstehst was ich meine.
All diese Bücher haben mich auf nichts von dem vorbereiten können, was kam. Also nicht wirklich. Sie retteten mich nicht vor den fürchterlichen Momenten des scheinbaren Scheiterns auf ganzer Linie im Umgang mit meinen Kindern, der Scham und der zeitweisen Wut auf mich selbst und sie beschrieben die unaussprechliche Liebe und Freude des Lebens in einer Familie nie so tief, wie ich es so oft fühlen durfte und darf.
Das ganze im Vorfeld angesammelte Wissen ließ mich mehr als ein Mal nickend verstehen, was dort beschrieben gemeint war. Die Erkenntnis, so manchen einfach nicht vermeiden zu können, ließ mich manchmal hilflos zurück und mich gleichzeitig daran erinnern, wie das Chaos des ganzen Universums halt funktioniert: Mit Raum, Dynamik und größtmöglichem Spaß!
Es ging darum, uns alle zu sehen und uns untereinander mitzuteilen. Zu lernen, offen zu sein für mich selbst, für meinen Gegenüber, für die Situation und dem gegenüber, was es jetzt vielleicht braucht. Was immer das auch sein mag. Es ging darum zu scheitern (was immer das auch bedeutet), zu erkennen, zu überdenken und zu modellieren.
Wir haben schnell erkannt, dass nichts in unserem Leben statisch und planbar war. Scheinbar gerade eben noch funktionierende Routinen waren innerhalb weniger Wochen wieder “null and void”. Einfach weil sich Aspekte, Fragmente, Bedürfnisse verändert hatten. Gleich ob von unseren Kindern aus oder von uns so called grown-ups.
Elternschaft ist nicht immer ein “happy place”.
Das ist manchmal echt deep down, wütend und zornig. Das ist hilflos und verzweifelt. Das ist manchmal tief frustrierend, von Nerven aufreibend bis zermürbend. Das darf alles sein und hat alles seinen Platz. Und dabei sind wir alle “richtig”, zu jeder Zeit. Auch wenn wir unterschiedliche Dinge zu wollen glauben und scheinen.
“Ich sehe dich und du kannst dich auf mich verlassen. Ich bin hier. Vertraue mir!”
Wir haben auf unserem Weg unglaublich viel ausprobiert. Haben wundervolle Dinge gefunden, die für uns unglaublich gut passten und passen. Dinge, wie das Familienbett zum Beispiel, das Tragen der Kinder in Tüchern oder Tragehilfen, das Stoffwickeln, Windelfrei-Experimente, das lange Stillen, breifreie Ernährung der Kidz…
Aber nichts davon ist irgendwie wichtig. Es ist einzig wichtig, zu finden, wer was braucht und was für euch passt. Die Achtsamkeit im Umgang miteinander und mit einem selbst. Die offene Kommunikation miteinander. Das Erkennen meines Raumes und das Anerkennen des Raumes des “anderen”. Das erkennen und leben von Grenzen. Es geht um Frustration und Frustrationstoleranz. Um die gleichwertige Begegnung auf Augenhöhe und zugleich das eröffnen von Halt und Orientierung. Es geht um echte Gefühle und das “Miteinander in Beziehung” sein.
Es geht um Liebe, Freude, Spaß, Abenteuer und den ganzen Rest. Es geht um das Leben in vollen Zügen.
Wir haben auch so einiges versucht und ausprobiert, dass uns dann doch einfach nicht taugte. Nichts ist in Stein gemeißelt, alles ein großes Spiel, dessen Regeln keiner kennt. Denn wir alle sind krass unterschiedlich und so sind es dann halt auch die Familien, die sich aus so unterschiedlichen Menschen bilden. Nicht planbar, nicht kalkulierbar und sie passen in keine Schablone. Totales, willenloses Chaos.
Und meine Güte - was für ein Spaß, oder?
Alma hat gestern schon angefangen ihre Sachen zu packen und war heute Morgen um 5 Uhr wach um "endlich los zu gehen". Denn das ist was sie tut - los gehen. Oh Mann, sieht die heute groß aus! Mit Jakob hatten wir damals noch ends die Eingewöhnung, waren mit dort, es war ein Hin und Her zwischen Gehen und Bleiben. Sie sind so unterschiedlich in manchen Dingen. Alma wollte mich heute schon am Auto verabschieden. Aber sie sagte "es ist okay für mich, wenn du noch Mal mit rein kommst". Als sie ihr eigenes Fach bekommen hat, sich ein Tiersticker ausgesucht und ans Fach geklebt hatte, nahm sie dann doch meine Hand und ging mit mir in die Gruppe.
Vertrauen schafft Mut. Und den hat sie – unbestritten.
"Komm und setz dich noch einen Moment mit mir", sagt sie.
Also mache ich das und wir sitzen gemeinsam am Boden und beobachten den Raum.
"Ganz der Papa", denke ich bei mir. Sie macht das Gleiche, was ich tue, wenn ich einen neuen Raum betrete. Wir sitzen gemeinsam am Boden an einer Wand und schauen mal, was hier eigentlich gerade so abgeht, wer da ist, wer die so sind, wie die so reden, was sie über ihre Körpersprache sagen, das sie nicht aussprechen, wer mit wem spielt und was...
Und sie beobachtet ihre neue Bezugsperson ganz genau. Nicht ängstlich. Mehr aufmerksam und interessiert. Denn das ist Alma. Offen, aufmerksam und interessiert.
"Danke, dass du noch da bist", sagt sie.
"Selbstverständlich", sage ich.
Wir lächeln uns an.
So sitzen wir da noch so eine Weile miteinander und erkennen gemeinsam den Raum und was ihn gerade eben befüllt.
"Papa, du kannst dann jetzt gehen", sagt sie dann plötzlich und steht auf.
"Ich kann dich ja anrufen wenn was ist", sagt sie. Denn so ist der Deal.
"Verena ist okay", sagt sie und ich nicke.
"Denke ich auch", sage ich.
Krass, wie sie sich so ausdrückt. So klar, so offen, so ehrlich. Und so wunderschön, das ich darauf vertrauen kann, dass das auch okay für sie ist, wenn ich jetzt gehe. Sonst würde sie es nicht sagen. Denn wir vertrauen einander.
Ich hab Pipi in den Augen. In dem Moment, als ich mit ihr dort saß, als ich sie verabschiedete und gerade eben, wenn ich dir das hier erzähle. Nicht aus Trauer oder aus Angst. Menschen denken sich gern Gründe aus, warum sie weinen. Menschen, denen begegnet wird, wenn sie weinen, bedürfen gern scheinbaren Trost. Dabei weinen sie manchmal einfach nur so. Wegen Berührung. Weil ihnen gerade danach ist.
Ich für meinen Teil, bin erfüllt, ergriffen, wie auch immer du es nennen möchtest. Ich bin voller Liebe, Zuneigung und ja, auch etwas stolz. Weil ich mir all die Zeit genommen habe, eine Bindung zu meinen Kindern aufzubauen, die unser Leben genau zu dem macht was es ist: ein riesig großes Abenteuer.
Love and gratitude
Heiko
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