Wie verortet man sich in der Unendlichkeit?
Ich lese gerade Navid Kermani, „Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen“. Das Buch ist ein Versprechen. Das Versprechen des Schriftstellers an dessen Vater, seiner Tochter den Islam zu erklären, wenn er mal nicht mehr da ist.
Ich liebe die Art, wie Navid Kermani schreibt. Ich kannte in bis dahin nur als Autor für die großen Zeitungen dieses Landes, schreibend über Politik und Wirtschaft immer mit Herz und einem offenen Geist.
Mit dem Islam habe ich nahezu keine Berührpunkte. Ich finde Glauben und Religion, Folklore und Mythologie grundlegend interessant. Weil ich gerne staune. Über alles Mögliche und Unmögliche, über die Dinge, die mir das Herz aufgehen lassen und auch über die, die es manchmal schier zu ersticken drohen.
Und weil ich nicht müde werde, nach dem zu Fragen, was alles zusammenhält, nach dem, was uns allen gemein ist und nach dem, woher alles kommt und wohin es strebt.
Wofür brauchen Menschen Gott?
Wofür den Glauben? Und wofür um Gottes und Göttin oder aller Götter und Göttinnen Willen brauchen sie die Religion?
Das Leben ist so weit. Der Kosmos ist nicht zu begreifen. Und bisher gelangte noch jede Wissenschaft an einen Punkt, an dem immer noch etwas offen bleibt.
Ließe sich Unendlichkeit begreifen, wäre sie dann noch unendlich? Also muss immer noch etwas offen bleiben. Wenigstens eine Frage noch. Gleich, wie weit wir forschen und zu Erkenntnissen gelangen. Ein Ende erreicht ist noch nicht einmal mit dem Tod. Oder?
Was ist dieses Nichts nach dem Sein?
Und wenn Energie nicht verloren geht, wohin geht sie dann?
Da ist eine Weite, die ist kaum zu ertragen. Da ist eine Haltlosigkeit. Und die fragt nach Halt. Bei den Myriaden an Wegen möchte man Dorothy sein, wünscht man sich diesen einen gelben Weg. Auf dem findet man Gefährten, besteht Abenteuer und kommt am Ende bei jemandem an, von dem man sich alles verspricht – Mut und Köpfchen, ein gutes Herz. Doch der hat einem nichts zu bieten als eine lausige Bestätigung dessen, was alles längst da war. Hm, kommt mir bekannt vor. Warum ist es eigentlich so schwer, sich selbst zu erinnern, ganz ohne Autorität und Absolution? Aber das ist ein anderer Artikel. Oder vielleicht auch nicht. So ganz im luftleeren Raum, so ohne Anhaltspunkt und Orientierung, da ist ein Anker schon eine feine Vorstellung.
Und ich glaube zunehmend, dass es für das menschliche Wesen eminent wichtig ist, sich zu verorten. In Raum, in Zeit, im Leben, im Kosmos – in dieser unendlichen Weite voller Ungewissheit. Irgendwo zu Hause sein. Irgendwo sich betten.
Also wie verortet man sich in der Unendlichkeit?
Das ist die Frage nach dem Umgang mit der Unendlichkeit. Umgang mit Unwissen, mit den offenen Fragen, der heillosen Komplexität in einer unfassbaren Ordnung. Das Baden im Widersprüchlichen wie Cleopatra in Milch.
Was ist der Weisheit letzter Schluss? Möglicherweise nur ein Quäntchen Wissen. Möglicherweise viel mehr ein Ahnen, ein Annähern, ein Staunen.
Möglicherweise ein Zauberer von Oz. Etwas oder jemand personifiziertes, dem oder der oder denen wir erlauben uns zu erinnern – nein, uns überhaupt zuzugestehen, was alles in uns steckt. All die guten Dinge. All die fantastischen Fähigkeiten. Jaja, die sind alle da! Wie viele Tage lebst du schon hier? Jeden Tag hast du erlebt, überlebt, bist hier am Leben, atmest. Kannst staunen und dich des Lebens freuen und andere beglücken.
Ja und dann sind da noch die Leidigkeiten. Das ewige Jammertal. Auch eine Unendlichkeit.
Gerade, wenn man sich mitten drin befindet.
Auch in der braucht es etwas oder jemanden, dem wir erlauben uns zu erinnern – nein, uns überhaupt zuzugestehen, das die Zeiten auch wieder anders werden und bei all dem Leid und dem Schmerz und der Verzweiflung immer noch die Bienen ihre Bahnen ziehen, die Blüten in den schönsten Farben und Formen erstrahlen und die Luft nach einem ordentlichen Regen so herrlich frisch ist.
Vielleicht ist es einfach leichter, sich zu verorten, wenn man sich auf eine wie auch immer geartete Entität berufen kann, von der man sich erinnern lässt. Eine Entität, von der man sich lehren und leiten lässt. Manchmal bewundere ich es, wenn Menschen sich so ohne wenn und aber auf eine einzige Richtung, einen Wertekatalog, einen Satz Normen einlassen können. Dafür bin ich nicht gebaut. Ich muss selbst erfahren, erforschen, entdecken dürfen und ich verschreibe mich nur dem, was für mich stimmig und wahr ist. Und das ist dann auch nicht in zwei Steintafeln gemeißelt.
Wie verorte ich mich in Unendlichkeit?
Auch ich habe meine Entitäten.
Zum Beispiel den Baum, der seine Wurzeln in die Erde streckt und seine Äste in den Himmel reckt. Vom Baum habe ich viel gelernt. Egal wo ein Baum steht, seine Natur ist es, seine Wurzeln in die Erde zu strecken und die Äste in den Himmel. Er steht da und geht Jahrein und Jahraus mit den Zeiten, nimmt die Wetter wie sie kommen, beschenkt reichlich mit Schatten, mit Früchten, mit frischer Luft, ohne etwas im Ausgleich zu fordern.
Und so verorte ich mich tagein und tagaus zwischen Himmel und Erde als ein kosmisches Kind, welches geboren wurde von Töchtern und Söhnen, die geboren wurden von Töchtern und Söhnen bis zurück an den Ursprung des Seins. Mir reicht das zum Staunen. Mir reicht das zum Dank.
Vermutlich ist es am Ende ganz gleich, was einem Halt gibt und Orientierung. Was ist es für dich? Nur das zählt.
Und wenn es etwas anderes ist, als für mich, dann ist das wunderbar.
Denn die Unendlichkeit lebt von der Vielheit. Das ist lebendig. Und das macht mich direkt gleich wieder neugierig. Und vielleicht kommt dann jeder von da, wo er ist, einfach einen Schritt näher. Ach, was ist das schön!
Liebe ohne Ende,
Barbara